Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé macht Gläubigern wenig Hoffnung auf Entschädigung. In seinem neuen Bericht teilt er gegen die EY-Prüfer aus.
Düsseldorf Seit knapp eineinhalb Jahren beschäftigt sich Insolvenzverwalter Michael Jaffé mit dem Wirecard-Skandal. Nun zieht er eine ernüchternde Bilanz. Es stehe „endgültig fest, was sich bereits vorher aus zahlreichen Indizien ergab“, notierte Jaffé in seinem jüngsten Sachstandsbericht. „Das behauptete und bilanzierte TPA-Geschäft mit Milliardenerträgen hat es bei Wirecard nicht gegeben.“
TPA steht für Third Party Acquiring, also das Drittpartnergeschäft. Es soll bei Wirecard mehr als ein Viertel der Bilanzsumme ausgemacht haben. Jaffé ist sich jedoch sicher, dass dieses Geschäft nicht existierte. Er hat sich Einblick in die Kontoauszüge der Banken in Singapur erkämpft, auf deren Treuhandkonten die vermeintlichen Erlöse gelegen haben sollen. Laut Jaffé sei mit ihnen „der unmittelbare Beweis erbracht“, dass von Wirecard „mittelbar bilanziertes Vermögen in Milliardenhöhe schlicht erfunden war“.
Die Frage, ob und in welchem Umfang Wirecard Gelder auf den Treuhandkonten hielt, spielt laut Jaffé eine „zentrale Rolle für eine Vielzahl von Fragen“ – sei es „in Bezug auf die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse, die Haftung der Organe oder der Abschlussprüfer“. Womöglich entscheidet sie auch mit darüber, ob Wirecards langjähriger CEO Markus Braun in Untersuchungshaft bleibt.
Laut Jaffé sei „die von einigen Beteiligten in den Raum gestellte Legende widerlegt“, dass Gelder beim Wechsel des Treuhänders 2020 verloren gegangen sein könnten. Es ist ein klarer Schuss gegen Braun, der seit Sommer 2020 in der JVA Augsburg einsitzt. Anfang Dezember wird das Oberlandesgericht München entscheiden, ob der frühere Wirecard-Chef freikommt.
Braun und seine Anwälte geben sich bis heute überzeugt: Das TPA-Geschäft habe es wirklich gegeben, die Erträge seien aber aus dem laufenden Geschäft gestohlen worden – von einer kriminellen Bande um den abgetauchten früheren Vorstand Jan Marsalek. Für Brauns Verteidiger ist es ein zentrales Argument bei dem Versuch, ihn aus der Untersuchungshaft zu holen.
Erst vor einer Woche hatten mehrere Medien die Verteidigungslinie prominent aufgegriffen. „Gab es die 1,9 Milliarden Euro doch?”, titelte die „Tagesschau“ auf ihrer Webseite. Gemeinsame Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung legten demnach nahe, dass das Geld aus der Firma abgeflossen sein könnte. Angeblich seien mehr als eine Milliarde Euro in der Karibik versickert.
Jaffé hielt nun in seinem Sachstandsbericht dagegen. Braun versuche, „die gegen das Bestehen des TPA-Geschäfts und der Treuhandkonten vorgetragenen Indizien zu entkräften oder als nicht zwingend darzustellen“. Dies sei aus Sicht des Insolvenzverwalters „nicht gelungen“. Es werde deutlich, so Jaffé, dass Brauns Darlegung „maßgeblich der strafrechtlichen Verteidigung diene“.
Der Wirecard-Insolvenzverwalter legt auch dar, was er anstelle des vermeintlichen bedeutenden TPA-Geschäfts vorfand: Auf zwei Konten des langjährigen Treuhänders Citadelle aus Singapur hätten zum Jahresende 2017 und 2018 Beträge im Wert von weniger als 3000 Euro gelegen, auf einem dritten Konto ein Betrag von weniger als drei Millionen Singapur-Dollar (umgerechnet knapp zwei Millionen Euro).
Dabei hätten es „ausweislich der Bilanzierung“ Ende 2017 knapp 713 Millionen Euro sein müssen, Ende 2018 schon mehr als eine Milliarde Euro. „Weitere Konten von Citadelle wurden bei der Bank nicht geführt“, notierte Jaffé. Auch Ende 2019 habe sich kein wesentlich anderes Bild ergeben.
Besuche in der Tanzbar Hedgehog
Der Insolvenzverwalter vermutet, dass es sich lediglich um „Spesenkonten“ handelte. Mehr als 90-mal seien Tankfüllungen über sie bezahlt worden. Zudem zeigten „mehr als 660 Zahlungen“, dass an Wochenenden „wohl häufig die Tanzbar Hedgehog in der Clive Street besucht“ worden sei. Auch sechs Einkäufe beim Spielzeughändler Toys ’R’ Us seien über die Konten getätigt worden.
Wie es um Wirecard ohne die vermeintlichen TPA-Summen wirklich stand, macht Jaffé ebenfalls unmissverständlich klar: Von Anfang 2015 bis 2020 habe sich der operative Verlust demnach auf rund 1,1 Milliarden Euro belaufen und insbesondere aus einem negativen Cashflow aus betrieblicher Tätigkeit in Höhe von 900 Millionen Euro bestanden.
Im Zeitraum von Anfang 2015 bis Ende März 2020 fielen dabei laut Jaffé verdächtige Mittelabflüsse in Höhe von 500 Millionen Euro an. Das Gros machten verdächtige Zahlungen aufgrund von M&A-Aktivitäten aus, etwa die überteuerte Übernahme von Firmen der indischen Hermes-Gruppe (315,5 Millionen Euro).
Jaffés Erkenntnisse lassen kaum einen anderen Schluss zu, als dass Wirecard weit früher als erst im Juni insolvenzreif war. Er hat die Wirtschaftsprüfungsfirma Warth & Klein damit beauftragt, den genauen Zeitpunkt zu ermitteln. Die Untersuchung läuft aber noch. Jaffé ist sicher: „Deren Ergebnisse werden die Anspruchsgeltendmachung unterstützen.“
Mehr als 1000 Gigabyte Datenmaterial hat der Insolvenzverwalter eigenen Angaben zufolge ausgewertet. Eine bedeutende Rolle sei dabei der „Pflege und Fortschreibung der Anspruchsmatrix“ zugekommen. Jaffé hat eine Übersicht über mögliche Ansprüche erstellt, die auch dazu geeignet sei, „die Tätigkeiten vorrangig auf die Ansprüche zu konzentrieren, deren Aufklärung und Durchsetzung eine entsprechende Massemehrung versprechen“.
Wirecard: Jaffé zeigt sich von EY enttäuscht
Die Wirtschaftsprüfer von EY dürften dabei eine zentrale Rolle spielen. Die Firma testierte Wirecard ein Jahrzehnt lang uneingeschränkt, bis im Juni 2020 klar wurde, dass in den Bilanzen 1,9 Milliarden Euro fehlten. Seit Längerem prüft Jaffé deshalb, „welche Prüfungshandlungen EY durchgeführt hat (und welche nicht)“ – und ob sich daraus mögliche Ansprüche ableiten lassen.
EY betont stets, dass die Mitarbeiter des Unternehmens „ihre Prüfungshandlungen nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt haben“. Das EY-Team habe „sämtliche Hinweise und Vorwürfe jederzeit ernst genommen“ und sei diesen „jeweils gezielt nachgegangen“. Es sei nun „oberste Priorität“, zur Aufklärung des Wirecard-Skandals beizutragen.
Jaffé zeigt sich unterdessen von EY enttäuscht. Der Abschlussprüfer und seine rechtlichen Vertreter hätten „jede Mitwirkung bei der Aufklärung der Vorgänge verweigert, sodass eine Auskunftsklage erhoben wurde“, notierte der Insolvenzverwalter in seinem Sachstandsbericht.
Einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Skandals nennt Jaffé unterdessen die Veröffentlichung des Wambach-Berichts, benannt nach Martin Wambach, dem Vorstand des Instituts der Wirtschaftsprüfer. Er hat im Auftrag des Wirecard-Untersuchungsausschusses die Arbeit von EY untersucht – und den Prüfern ein desaströses Zeugnis ausgestellt.
Die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestags stufte das Dokument auf Anraten von EY als geheim ein und hielt es lange unter Verschluss. Das Handelsblatt veröffentlichte den Bericht am 11. November auf seiner Webseite. EY stellte kurz darauf Strafanzeige wegen der „Weitergabe des Berichts der Ermittlungsbeauftragten (Wambach-Bericht) und dessen Veröffentlichung“.
Jaffé hat Handelsblatt-Informationen zufolge bislang weniger als eine Milliarde Euro eingetrieben. Dem gegenüber stehen derzeit 40.000 Forderungen, die sich auf etwa 15,8 Milliarden Euro summieren. Ein Zeitaufwand „von mehreren Jahren“ für ihre Bearbeitung sei laut Jaffé „nicht unwahrscheinlich“.
Zugleich macht der Insolvenzverwalter wenig Hoffnung, dass am Ende des Verfahrens etwas für die Gläubiger übrig bleibt. Jaffé habe zwar eine „Vielzahl verdächtiger Zahlungen im Konzern identifiziert“ – insbesondere „im inkriminierten Umfeld des vermeintlichen TPA-Geschäfts“.
Rückzahlungen seien hierbei aber „nicht zu erwarten“. Teilweise seien Jaffés Schreiben zur Geltendmachung von Forderungen aber „nicht einmal zustellbar“. Zudem hätten Anspruchsgegner sich in Insolvenzverfahren geflüchtet, „um die Weiterverfolgung etwaiger Zahlungsabflüsse zu erschweren“.
source handelsblatt